Lesen

Lernen

Ganz am Anfang funktioniert das Lernen, ohne dass wir etwas davon wüssten. Wir lernen zu atmen und zu sehen, und wie man schluckt und kaut. Wir lernen, Hände zu schließen und zu öffnen, und die Blase zu regulieren. Mit der Zeit entwickeln wir Bewusstsein dafür, dass wir existieren, empfinden, dass sich unser Körper in den Raum ausdehnt. Und wir beobachten zunehmend, dass wir diesen Körper in äußeren Einflüssen wie der Schwerkraft kontrollieren können. Wir fühlen uns mit der Zeit sicherer beim Aufstehen und Gehen, beim Sprechen, Kopfschütteln und Naseputzen, und vieles von dem, was wir uns so nebenbei angeeignet haben, läuft bald wie selbstverständlich, im Hintergrund ab — und dann?

Dann verändern sich auf einmal die meisten gesellschaftlich anerkannten Wege, etwas zu lernen. Auf den ersten Blick erscheinen sie noch stimmig: Wir sehen uns einem neuen Inhalt ausgesetzt und möchten ihn wiederholbar beherrschen oder willentlich abrufbar speichern. Der Mechanismus unseres Gedächtnisses — Wahrnehmen > Auf Wichtigkeit Prüfen > Speichern / Verwerfen > Bei Bedarf abrufen — funktioniert so simpel, dass wir dem Missverständnis unterliegen, es genüge, einem Schüler eine Information vorzutragen, und es sei dann an ihm, ob er sie behält oder nicht. Diese eigentlich hübsche Fähigkeit, uns Dinge so zu merken, wie sie gemerkt gehören, hat uns zum Schluss geführt, dass sich das meiste in Kategorien von „richtig“ und „falsch“ oder „gut“ und „schlecht“ einteilen ließe. Individuelle Wahrnehmung spielt dabei selten eine Rolle. Ja, wir integrieren in unsere Lernerfahrung sogar das Prinzip von Belohnung und Strafe. Daraus entsteht der übelste Mangel dieses Systems: Dass es schlecht sei, zu scheitern, dass es schlecht sei, etwas auszuprobieren, einzuschätzen, herumzuversuchen, sich einer Lösung anzunähern; dass es sogar so etwas gäbe wie dumme Fragen. Auf diese Weise geht nicht nur bald die Lust am Lernen flöten, sondern verkümmert auch die eigene Neugier. „Lernen“ bedeutet nicht, etwas gesagt zu bekommen und zu behalten. Das wäre vielmehr Imitieren. Ein guter Pädagoge plappert oder hüpft deshalb nicht einfach bloß etwas vor und bittet um Nachmachen; er gibt den Teilnehmenden Gelegenheit, in ihre eigene Wahrnehmung zu lauschen, Ahnung und Idee selbst zu entwickeln, und zu verstehen, wie etwas funktioniert und wie es vielleicht sonst noch funktionieren könnte. Habe ich eine Vorstellung davon, welchen Weg ich gerade mit meinem Becken im Verhältnis zum Boden und Raum beschreibe? Ist mir klar, welche Teile von mir diese Bewegung beeinflussen und von dieser Bewegung beeinflusst werden? Tue ich das, was ich meine zu tun?

Körperliche Bewegung bietet uns ein Messinstrument für die Art, wie wir uns selbst mit uns auseinander-, und in Beziehung zur Welt setzen. Vielleicht bedeuten einem vage Antworten auf solche Fragen bloß, dass man bis hierhin nichts oder wenig verstanden hat. Eine abschließende Antwort darf ruhig ausbleiben. Denn, ginge es lediglich um eine Antwort, was sollte ich noch weiter interessant finden, sobald ich sie habe? Warum sollte ich musizieren, wenn ich doch den letzten Akkord als erstes spielen könnte? Warum sollte ich noch tanzen, wenn ich gleich in den letzten Schritt walzern könnte? Warum sollte ich noch ein Märchen lesen, wenn ich die Moral der Geschicht ́ auf einer Postkarte fände? Das Erleben eines Moments, die Erforschung von Zusammenhängen, die Entwicklung eigener Gedanken ist für das Begreifen und Verstehen der Dinge wertvoller als das bloße Speichern von Information und Wissen.

Bei allen künstlerischen, musischen, gestalterischen Handlungen stellen wir uns die Frage nach Leistung, Kraft, Zeit, Ziel und Zweck überhaupt nicht. Weil wir wissen, dass wir dadurch nichts erleben, nichts lernen würden. Weshalb fällt es uns so schwer, diese Idee auf den Rest unseres Lebens zu übertragen? Weil wir keine Zeit haben? Weil wir gewohnt sind, dass etwas nur dann gut ist, wenn es anstrengend war? Weil Arbeit nicht Freude machen soll? Weil man eben nun einmal an diesen Herrn oder jene Dame durch Gen oder Vertrag oder Autorität gebunden ist?

Zu Beginn lernt jedes Baby wie alle anderen auch. Allmählich lernt es, auf den Bauch zu rollen, seine Kopfmuskulatur zu kontrollieren, sich umzusehen, aufzusetzen, zu krabbeln. Scheinbar funktioniert das alles wie von selbst: Im Feld der Schwerkraft müssen sich manche Muskeln verkürzen und andere weich und lang werden — sie müssen koordiniert zusammenspielen, um eine Veränderung im Verhältnis der Knochen zueinander und des Körpers zum Raum zu erreichen. Dieses Erfahren ist in einer geborgenen Umgebung eher gestattet; das Baby erforscht dann frei die Möglichkeiten seiner Anatomie, wie es seine eigene Position in der Umwelt, und später sogar die Umwelt selbst den eigenen Bedürnissen gemäß verändern kann. Es übersetzt seine Beweg-Gründe dann organisch und direkt in Handlung. Dadurch, dass die meisten dieser Erfahrungen noch neu sind und ungewohnt, werden sie unvoreingenommen und tief im jungen, „programmierbaren“ Gehirn verankert: Lernen als Erfahrung der Wahrnehmung (man könnte auch sagen: Lernen als Wahrnehmung der Wahrnehmung). Bewegung fungiert dabei wie ein Sinnesorgan zur Erfahrung des Körpers, des Raumes, und des Körpers im Raum. Das Baby besitzt noch nicht die Fähigkeit zur Reflexion, und wir lassen es in Frieden probieren, unterstützen es sogar in seiner spielerischen Neugier. Spätestens wenn das Kind merkt, dass es einen eigenen Willen haben könnte, und dass sich andere danach fügen, hat es mit dem spielerischen Lernen aber meistens ein Ende. Das Kind „soll“ jetzt plötzlich immer mehr, seiner Freiheit fügen sich Zwänge hinzu, und das kann auch gar nicht anders sein, weil es schließlich lernen muss, wie man sich in einer Gemeinschaft verhält. Umso wichtiger ist es, dort eine Balance zu finden, und im weiteren Lauf immer wieder zu dieser frühen Art der spielerischen Erkundung der Welt und unseres Selbst zurück zu kehren, ob in Kunst, Konversation, allgemeinen Albernheiten — oder im Feldenkrais.

Wie ist es uns Erwachsenen möglich, uns uns selbst ähnlich unvoreingenommen zu nähern? Durch diese leichten Feldenkrais-Bewegungen herauszufinden, was wir im Moment tun, um unsere Lage, Stellung im Raum zu verändern? Wie wäre es zum Beispiel, in einer Stunde nur halb so viel Energie zu investieren wie wir zur Verfügung haben? Dabei die Klarheit der Bewegung über ihre Größe und irgendein Ziel zu stellen, selbst wenn das bedeutet, dass sie viel kleiner wird, als sie sein könnte. Wie wäre es, auf das Zusammenspiel der vielen Ebenen — Vorstellung und Impuls / Muskelkraft / Skelett / Atmung / tatsächliche Handlung — ganz am Anfang einer Bewegung zu achten; und kritiklos Widerstände zu registrieren und nicht zu bekämpfen, zu übergehen? Sondern einfach nur zu fragen, wie und wann dieser Widerstand wo genau in mir auftaucht — wann ich diesen Widerstand herstelle und einen Fluss bremse? Das wäre sicherlich Herausforderung genug. Und dann, wenn wir frei sind von Anstrengung, von Wollen, von Zweifel und Bewertung; dann zu schauen, ob ́s von hier aus vielleicht anders gehen könnte, neu, weich, leicht, elegant. Denn von hier aus kann vielleicht etwas gelernt werden über die Welt und uns selbst, und über uns selbst in der Welt.